Buchbesprechungen
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Irmgard Teitge ', welche Bücher auf den Regalen der Brüder Grimm standen, welche Texte
aber den Grimms und deren Gewährspersonen, sei es durch eigene Lektüre oder mündliche
Tradierung bekannt waren, kann die Forschung nur indirekt durch gründlichen Textver
gleich erschließen. Für den Schweizer Anteil der Deutschen Sagen hat Barbara Kindermann-
Bieri 2 diese Arbeit geleistet; sie hat die schriftlichen Quellen gesichtet, sie belegt mit ein-
drücklichen Textvergleichen ihre Resultate und beleuchtet auf diese Weise den Bearbeitungs
prozeß der Brüder Grimm, über den sie selber uns „im Dunkeln“ lassen (Uther: Nachwort,
281).
Mit seinem Band „Märchen vor Grimm“ liefert uns Hans-Jörg Uther ansehnliches Mate
rial, das zum Parallel-Lesen — zu jeder Geschichte vermerkt er die entsprechende KHM-
Nummer — und zum Textvergleich anregt. Er versammelt Geschichten aller Art, die Vor
läufer oder Vorahnen der Kinder- und Hausmärchen gewesen sein mögen. Sie stammen aus
ganz verschiedenen Zeiträumen: die älteste aus dem 2. Jahrhundert von Babrios (Babrii Fa-
bulae Aesopeae), ein paar aus dem Mittelalter (z. B. „Die Prophezeiung erfüllt sich“ aus der
„Scala celi“ von Johannes Gobius), viele aus der Reformationszeit (von Johannes Mathesius,
Hans Sachs, Valentin Schumann und vielen anderen), die meisten aus dem exempelfülligen
Barock (von Johann Peter de Memel, Johannes Möller, Johann Praetorius, Gregor Strigenitz
usw.), dann einige aus der pädagogisch-didaktischen Beiehrsamkeit der Aufklärung und
schließlich ein paar Texte von Grimm-Zeitgenossen ( Caroline Stahl, Ferdinand von Arnim),
die aber zum Teil ihre Sammlungen frei als erfunden deklarieren. Bürgertöchter und -söhne
versuchen sich jetzt in der Kunst des Märchens und ersinnen Volkstümlichkeit nach be
stimmten ästhetischen Regeln der Gattung.
Im ganzen präsentiert uns Uther 70 Geschichten von 56 unterschiedlichen Autoren oder
Sammlungen. Er führt uns Stoffe in den verschiedensten Farben und Prägungen vor: Kir
chenmänner katholisch-monastischer Provenienz — unter ihnen offenbar die Franziskaner
am eifrigsten — und protestantischer Abkunft hüten ihre Schäflein mit denselben Hunden:
Exempelgeschichten und Predigtmärlein, die erbauen und ermahnen sollen. Die bürgerli
che Fabulierlust eines Giambattista Basile mit ihren purzelnden Ereignisketten ergötzt uns
ebenso wie der elegant-graziöse, immer auf höfischen Standard schielende Charles Perrault.
Die leichtfüßige Novellistik eines Straparola läuft neben der kurzatmigen, tapsigen
Schwankliteratur eines Hans Sachs. Ein Geschichtenrudel findet sich hier zusammen, noch
unbehelligt von Kamm und Schere, noch nicht befreit von Floskeln, Flausen, Flöhen, noch
nicht auf Grimm getrimmt.
Uthers Sammelband könnte nicht nur für die märchenliebenden Laien ein Genuß, son
dern auch den Studierenden der Volksliteratur auf dem Gebiet der Märchenforschung eine
Hilfe sein, wären da nicht auch einige Mängel, die seinen Gebrauchswert für Studienzwecke
in Frage stellen. Die Quellenangaben sind bisweilen fragmentarisch unvollständig. Oft feh
len die Angaben über die Erstausgaben. Die Vornamen der Autoren sind in der Bibliogra
phie nach amerikanischer Unsitte abgekürzt. Zwei Werke, aus denen Texte abgedruckt sind,
1 Ludwig Denecke, Irmgard Teitge: Die Bibliothek der Brüder Grimm: annotiertes Verzeichnis des
festgestellten Bestandes, erarbeitet von Ludwig Denecke und Irmgard Teitge ; hrsg. von Friedbilde
Krause. Weimar: Böhlau, 1989 (vgl. Rez. in ZfVK 86 [1990] S. 295 f.).
2 Barbara Kindermann-Bieri: Heterogene Quellen — homogene Sagen. Philologische Studien zu den
Grimmschen Prinzipien der Quellenbearbeitung, untersucht anhand des Schweizer Anteils an den
Deutschen Sagen. Basel: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, 1989.