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Peter Niedermüller
erkennen lassen, wie sich die Geschichte in das Alltagsleben der Gegenwart einge
mischt hat; wie also dieser historische Prozeß im Sozialismus weiterlebte und wel
che Wirkung er heute im politischen und gesellschaftlichen Leben hat.
Bevor dieser ganze Verlauf skizziert wird, brauchen andere Fragen eine Ant
wort. Einerseits muß gefragt werden, ob das Problem der Nationalkultur und der
Nationbildung tatsächlich ein bestimmender und determinierender Faktor in der
Geschichte Mitteleuropas gewesen, ob die heutige politische und gesellschaftliche
Wirklichkeit Mitteleuropas wirklich nur unter Berücksichtigung dieser Probleme
verständlich und begreiflich ist. Natürlich kann eine überzeugende Antwort auf
diese Frage nur durch ausführliche Forschung gegeben werden. Anders gesagt: Ein
wichtiger Zweck dieser Forschung wäre gerade die Klarstellung der politischen
und gesellschaftlichen Wichtigkeit dieses Problems — obwohl gleich gesagt werden
muß, daß seit der Mitte des 19.Jahrhunderts alle wichtigen politischen, gesell
schaftlichen und kulturellen Probleme Mitteleuropas im Zusammenhang mit Na
tion und Nationalkultur aufgetreten sind . 4 Die Wahrheit dieser Feststellung wird
auch durch die heutige globale Situation Mitteleuropas unterstrichen, denn eine
der größten Schwierigkeiten des „postsozialistischen“ Zeitalters in Mitteleuropa
bildet die Frage der Nation, der Nationalkultur, des Nationalismus.
Andererseits muß auch gefragt werden, ob die Volkskunde, die empirische Kul
turwissenschaft oder die Kulturanthropologie diese Fragen überhaupt beantwor
ten kann. Es ist nämlich sehr offensichtlich, daß viele Aspekte oder Dimensionen
der hier erwähnten Probleme — z.B. die Veränderung der gesellschaftlichen Struk
tur, die Modernisierung, die Industrialisierung und selbst die Sozialgeschichte —
ein traditionelles Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft bilden. Ich denke na
türlich nicht, daß die Volkskunde oder die empirische Kulturwissenschaft die So
zialgeschichte ersetzen kann. Gleichzeitig bin ich aber ganz sicher, daß die kultur
wissenschaftlichen Forschungen die Sozialgeschichte sehr gut ergänzen können. Es
muß hier betont werden, daß die modernen volkskundlichen, kulturwissenschaft
lichen Forschungen sehr wohl in der Lage sind, die „verborgenen“ Wirkungen und
Folgen der sozialgeschichtlichen Prozesse zu verfolgen — einfach deswegen, weil
diese „verborgenen Folgen“ vor allem auf dem Gebiet des Alltagslebens wahr
nehmbar sind. Das Alltagsleben aber ist der wichtigste Gegenstand der modernen
Kulturwissenschaft. Die kulturwissenschaftlichen Forschungen zeigen, daß die so
zialgeschichtlichen Prozesse sehr wesentliche symbolische Inhalte tragen und ohne
die kulturellen, symbolischen „Geschiebe“ sinnlos erscheinen und unverständlich
und uninterpretierbar sind. Anders gesagt, die moderne Volkskunde kann die ver
schiedenen Erscheinungen der Gegenwart als „verspätete Reflexe“ der Geschichte
im Alltagsleben beobachten, beschreiben, interpretieren und verstehen. Und diese
kontinuierliche Bewegung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist vielleicht das
wichtigste Moment in der Erforschung der Nationalkultur und des Nationalismus.
4 Vgl. Miroslav Hroch: Social Preconditions of National Revival in Europe. Cambridge 1985; Jenö
Szücs: Nation und Geschichte: Studien. Budapest 1981.