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Full Text: Zeitschrift für Volkskunde, 88.1992

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Peter Niedermüller 
erkennen lassen, wie sich die Geschichte in das Alltagsleben der Gegenwart einge 
mischt hat; wie also dieser historische Prozeß im Sozialismus weiterlebte und wel 
che Wirkung er heute im politischen und gesellschaftlichen Leben hat. 
Bevor dieser ganze Verlauf skizziert wird, brauchen andere Fragen eine Ant 
wort. Einerseits muß gefragt werden, ob das Problem der Nationalkultur und der 
Nationbildung tatsächlich ein bestimmender und determinierender Faktor in der 
Geschichte Mitteleuropas gewesen, ob die heutige politische und gesellschaftliche 
Wirklichkeit Mitteleuropas wirklich nur unter Berücksichtigung dieser Probleme 
verständlich und begreiflich ist. Natürlich kann eine überzeugende Antwort auf 
diese Frage nur durch ausführliche Forschung gegeben werden. Anders gesagt: Ein 
wichtiger Zweck dieser Forschung wäre gerade die Klarstellung der politischen 
und gesellschaftlichen Wichtigkeit dieses Problems — obwohl gleich gesagt werden 
muß, daß seit der Mitte des 19.Jahrhunderts alle wichtigen politischen, gesell 
schaftlichen und kulturellen Probleme Mitteleuropas im Zusammenhang mit Na 
tion und Nationalkultur aufgetreten sind . 4 Die Wahrheit dieser Feststellung wird 
auch durch die heutige globale Situation Mitteleuropas unterstrichen, denn eine 
der größten Schwierigkeiten des „postsozialistischen“ Zeitalters in Mitteleuropa 
bildet die Frage der Nation, der Nationalkultur, des Nationalismus. 
Andererseits muß auch gefragt werden, ob die Volkskunde, die empirische Kul 
turwissenschaft oder die Kulturanthropologie diese Fragen überhaupt beantwor 
ten kann. Es ist nämlich sehr offensichtlich, daß viele Aspekte oder Dimensionen 
der hier erwähnten Probleme — z.B. die Veränderung der gesellschaftlichen Struk 
tur, die Modernisierung, die Industrialisierung und selbst die Sozialgeschichte — 
ein traditionelles Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft bilden. Ich denke na 
türlich nicht, daß die Volkskunde oder die empirische Kulturwissenschaft die So 
zialgeschichte ersetzen kann. Gleichzeitig bin ich aber ganz sicher, daß die kultur 
wissenschaftlichen Forschungen die Sozialgeschichte sehr gut ergänzen können. Es 
muß hier betont werden, daß die modernen volkskundlichen, kulturwissenschaft 
lichen Forschungen sehr wohl in der Lage sind, die „verborgenen“ Wirkungen und 
Folgen der sozialgeschichtlichen Prozesse zu verfolgen — einfach deswegen, weil 
diese „verborgenen Folgen“ vor allem auf dem Gebiet des Alltagslebens wahr 
nehmbar sind. Das Alltagsleben aber ist der wichtigste Gegenstand der modernen 
Kulturwissenschaft. Die kulturwissenschaftlichen Forschungen zeigen, daß die so 
zialgeschichtlichen Prozesse sehr wesentliche symbolische Inhalte tragen und ohne 
die kulturellen, symbolischen „Geschiebe“ sinnlos erscheinen und unverständlich 
und uninterpretierbar sind. Anders gesagt, die moderne Volkskunde kann die ver 
schiedenen Erscheinungen der Gegenwart als „verspätete Reflexe“ der Geschichte 
im Alltagsleben beobachten, beschreiben, interpretieren und verstehen. Und diese 
kontinuierliche Bewegung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist vielleicht das 
wichtigste Moment in der Erforschung der Nationalkultur und des Nationalismus. 
4 Vgl. Miroslav Hroch: Social Preconditions of National Revival in Europe. Cambridge 1985; Jenö 
Szücs: Nation und Geschichte: Studien. Budapest 1981.
	        
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