Die Straße lebt.
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baren städtischen Umwelt und die sozialen Bedingungen eines dominanten Dis
kurses der Kriminalisierung sind der Kontext, in dem sich Street Life heute in New
York manifestiert; die durch Städtebau und eine kulturelle Bestimmung dessen,
was auf der Straße geschehen darf, geprägten Slumstraßen sind der Raum, in dem
Menschen eine transitorische Praxis — das Street Life — und ephemere Spuren —
die mit dem Street Life einhergehenden Graffiti — setzen.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten des Erklärens von Street Life: als funktiona
le Umweltaneignungsstrategie unter defizitären Lebensbedingungen, als Praxis, die
nicht die Verbindlichkeit einer allgemein geteilten Kultur hat, als Taktik, die Wi-
derständigkeit ausdrückt, als Verstoß gegen die kulturell institutionalisierte Nut
zungsform von Straßen, als kriminelle oder zumindest kriminogene Aktivität. All
das sind Repräsentationen 23 von Street Life, die nebeneinander stehen können. Die
se Repräsentationen sind aber weder gleich gültig noch in ihrer Verschiedenheit
gleichgültig, das heißt, sie sind nicht mit dem gleichen Gewicht gesellschaftlicher
Macht ausgestattet und nicht indifferent. Das in der Studie zum Street Life einer
Straße in Bushwick gewählte kulturökologische Erklärungsmodell, das diese
Handlungsform als sinnvolle und legitime Auseinandersetzung mit den Lebensbe
dingungen im Slum postuliert, formuliert eine kulturanthropologische Gegendar
stellung zur gesellschaftlich dominanten Bewertung des Street Life. Was in den Me
dien, in der Vorstellungswelt von Vorstadtbewohnern, in den Richtlinien von So
zialplanern und Stadtverwaltung als Unordnung, Nichtstun und Gefahrenquelle
firmiert, wird kulturökologisch als funktional definiert. Der dabei eingesetzte Be
griff der Funktionalität entspricht nicht dem von Marshall Sahlins vehement kriti
sierten Leitbegriff des ethnologischen Funktionalismus und der frühen amerikani
schen Kulturökologie, denen Sahlins zu Recht vorwirft, kulturelles Handeln auf
eine praktische Vernunft zu reduzieren, die menschliche Kultur nur unter dem
Aspekt eines instrumentalen Zugriffs auf Umwelt im Rahmen rationaler, zielge
richteter Aktivitäten der Überlebenssicherung gelten läßt und die symbolische
Ordnung im Säurebad der Instrumentalität auflöst. Der in der Untersuchung in
Bushwick aufgenommenen Begriffe der Funktionalität entspricht eher der von
Roy Rappaport eingeführten „ökologischen Rationalität“ bestimmter kultureller
Handlungsmuster. Diese „ökologische Rationalität“ steht im Gegensatz zu einer
»ökonomischen Rationalität“, die der Maximierung von unmittelbarem instru-
mentellen Nutzen für Individuen und gesellschaftliche Teilgruppen gegen die In
teressen der Gesellschaft bzw. des ökokulturellen Systems, in das sie eingeordnet
tst, impliziert, und meint statt dessen ein kulturelles Handeln, das in sozialer Gegen
Der die englischsprachige Diskussion um die Krise einer adäquaten Darstellungsform kultureller
Wirklichkeiten prägende Begriff der „representation“ hat laut Stuart Hall zwei Dimensionen: 1.
„how one images a reality that exists ,outside' the means by things are represented" und 2. „a radi
cal displacement of that unproblematic notion of the concept of representation" (Stuart Hall:
New Ethnicities, in Lisa Appignanesi (ed.), Post-modernism and the Question of Identity, ICA
Documents, London 1987, S. 44-46.