Gisela Welz
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seitigkeit eine produktive Wechselbeziehung zwischen Menschen und zwischen
Menschen und ihrer Umwelt ermöglicht. 24
Dem Street Life diese Art der Funktionalität zu attestieren, läßt den üblichen
amerikanischen Diskurs zur Straßennutzung in den Slums nicht unwiderspro
chen. Das entspricht dem selbstgesetzten Ziel der Kulturanthropologie als Krisen
wissenschaft, Diskrepanzen zwischen menschlichen Bedürfnissen und ihren gesell
schaftlichen Verwirklichungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Zweierlei ist dazu ab
schließend anzumerken. Einmal: Ist die Trennung zwischen einer kulturwissen
schaftlichen Perspektive und einem gesellschaftlichen Diskurs, auf den sie kritisch
Bezug nimmt, nicht letztendlich künstlich? Und zum anderen: Woher nimmt sich
die Kulturökologin das Recht zur „stellvertretenden Selbstbeauftragung“, wo blei
ben die „Street people“ und ihre eigene Repräsentation in dieser als „Richtigstel
lung“ intendierten Darstellung? Von den bürgerlichen Bedrohungsphantasien, die
das Street Life evoziert und die — wie die kurz angesprochenen kulturhistorischen
Studien zeigen — in den Vereinigten Staaten seit dem 19. Jahrhundert in konkreten
Sozialdisziplinierungsmaßnahmen münden, ist die Kulturwissenschaft — dort wie
hier — ja nicht frei. Sie sind auch in die kulturökologische Studie eingeschrieben.
Wenn ich mich an anderer Stelle dagegen verwahrt habe, daß meine Forschung von
amerikanischen Fachkollegen und -kolleginnen als transgressiv die Grenzen zwi
schen städtischen Sozialwelten überschreitendes „walking on the wild side“ stili
siert wurde 25 , dann muß ich mir zumindest die Frage gefallen lassen, ob ich diese
Stilisierung zur furchtlosen Feldforscherin — als junge weiße Frau im „black ghet-
to“ — nicht auch antizipiert und gewollt habe. Fest steht aber, daß die bei Vorstel
lungen der Forschung in deutschen Volkskunde- und Völkerkundeinstituten am
häufigsten ausgesprochene und am insistierendsten vorgetragene Frage — „Aber
war das denn nicht gefährlich?“ — zu einer Klärung der kulturwissenschaftlichen
Relevanz des Gegenstands Street Life nicht beigetragen hat und die mitschwingen
den rassistischen und sexistischen Untertöne Möglichkeiten der Auseinanderset
zung mit Fragen der Erklärungsmacht von Repräsentationen und des Rechts auf
Repräsentation eher verhindert haben. Und obwohl die Untersuchung feststellt,
daß die „Street people“ selbst ihre Taktik als solche nicht thematisieren und Street
Life damit — in einer Adaption des Begriffs — eine diskurslose Praktik 26 zu sein
scheint, ergibt sich aus mangelnder Repräsentationskompetenz (aus welchen Grün
24 RoyA. Rappaport: Pigs for the Ancestors. Ritual in the Ecology of a New Guinea People, New Hä
ven 1984; Marshall Sahlins: Culture and Pracitcal Reason, Chicago/London 1976. Rappaport eröff
net den Blick auf zwei Formen der Instrumentalität, deren normative Formulierung sich durchaus
und gerade — im Unterschied zu den von Sahlins kritisierten Ansätzen — auf die symbolischen
Kodes und die kulturellen Bedeutungen der so eingeordneten Handlungsformen bezieht.
25 Gisela Welz: Bushwick Revisited. Überlegungen zur Vermittlungsproblematik zwischen For
schung und Praxis, in: Kultur als Beruf. Kulturanthropologische Praxis nach dem Examen, Insti
tut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt am Main.
NOTIZEN Bd. 37, S. 145-158.
26 Vgl. de Certeaus Explizierung der Foucault’schen Terminologie, de Certeau: Kunst des Handelns,
S. 107.