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Full Text: Zeitschrift für Volkskunde, 88.1992

Die Umbenennung der Vergangenheit 
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selektierte Version 2 — wird derart konstruiert, daß die mit der hegemonialen Herr 
schaftsform identifzierte Gegenwart als eine natürliche und notwendige Fortset 
zung dieser Vergangenheit erscheint. Die Gegenwart wird zu einer unumgängli 
chen und zweckvollen Fortsetzung der Vergangenheit, die jene und die damit iden 
tifizierte sozio-politische Herrschaftsform legitimiert. 
Die Vergangenheit ist keine platonische Idee, sondern eine semiotische Realität. 
Der Einsatz einer beliebigen Version der Vergangenheit im Gesellschaftsbereich 
setzt voraus, daß sich die besondere Version auf die Semiosphäre auswirkt, d. h. zu 
den Mechanismen gehört, die Bedeutung aufkommen läßt und propagiert. Die 
Funktion der Vergangenheit als primärer Legitimationsfaktor ist der Grund, wa 
rum allein die offizielle Version der Vergangenheit, diejenige, die mit der hegemo- 
nialen sozio-politischen Herrschaftsform assoziiert wird, in den offiziellen Berei 
chen der Semiosphäre gegenwärtig ist. Opponierende Versionen, die per definitio- 
nem die offizielle Version der Vergangenheit und die damit verbundene 
Flerrschaftsform in Frage stellen bzw. sich ihnen widersetzen, erhalten keinen Zu 
gang zu den offiziellen Bereichen der Semiosphäre. 
Im folgenden liegt der Schwerpunkt auf einem spezifischen Text des National- 
Narrativs, den städtischen Straßennamen. Straßennamen sind ein Beispiel des 
Schnittpunkts, an dem sich die Strukturen der herrschenden Ideologie mit der Pra 
xis des täglichen Lebens treffen. 3 Sie dienen der Propagierung der herrschenden 
Ideologie. 4 Im Unterschied zu Denkmälern und Gedächtnisfeiern ist die Wirksam 
keit von Straßennamen der wissenschaftlichen Forschung beinahe völlig entgan 
gen. Anscheinend sind Straßennamen nicht unbedingt die herausragendsten Uber- 
mittler der vorherrschenden Ideologie. Tatsächlich scheint genau das Gegenteil der 
Fall zu sein. Straßennamen sind wie Briefmarken und Banknoten alltäglich und 
e mfach. Die stets wiederkehrende Begegnung zwischen dem einzelnen und den 
ideologischen Strukturen der Macht, besonders die durch verschiedene Namen 
hervorgerufene ,Vergangenheit“, ist rein zufällig und geschieht beinahe immer un 
bewußt. Gleichwohl hat die semiotische Verfahrensweise einen deutlichen Vorteil, 
Wenn es darum geht, welche gesellschaftliche Rolle die ,Vergangenheit“ für die hege- 
moniale Herrschaftsform zu spielen hat. Durch Straßennamen kommt die offiziel 
le Version der Vergangenheit in Lebensbereichen zum Tragen, die scheinbar von 
(Fortsetzung von Fußnote 1) 
S. 183—197. Laut Bourdieu fällt Vergangenheit 1 in die Kategorie der „Mechanismen, die traditio 
nellerweise der Herrschaftsform der Ideologie hinzugerechnet werden“, die ihrerseits „die Aufga 
be hat, die etablierte Herrschaftsform zu legitimieren“ (S. 183). 
Siehe hierzu die bahnbrechenden Ausführungen von Bernhard Lewis in dessen: History — 
Remembered, Recovered, Invented, Princeton 1976. Mein Verständnis der Struktur des Narrativs 
folgt R. Hodge und G. Kress: Social Semiotics, Oxford 1988, besonders S. 229 f. 
Zu den „räumlichen Praktiken des täglichen Lebens“, besonders in der Stadt, siehe: de Certeau: 
The Practice of Everyday Life, Berkley/London 1984, insbesondere Kap. 7. 
Für eine allgemeine Abhandlung zu diesem Theme, siehe: Edward Shills: Tradition, Chicago 1981, 
S. 254.
	        
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