Maoz Azaryahu
der politischen Sphäre völlig losgelöst sind. Über Straßennamen dringt der My
thos der Vergangenheit bis in die bescheidendsten Bereiche menschlichen Lebens
ein. Die Helden der Vergangenheit und die ideologischen Konstrukte, die sie reprä
sentieren, werden Teil der täglichen Sprache. Die scheinbare Bedeutungslosigkeit
von Straßenschildern, fern jedweder offiziellen Propaganda, verleiht ihnen eine
Selbstverständlichkeit, die sie ihrerseits auf die Version der Vergangenheit, die sie
repräsentieren, und dadurch auf die Strukturen der Macht übertragen.
Eine Gruppe von Straßenschildern (kurz: Stadt-Text) erzählt nicht die Vergan
genheit in der Weise, wie es zum Beispiel eine historische Ausstellung, ein für den
Ünterricht bestimmtes Textbuch oder ein historischer Film tun. Der gesellschaftli
che Stellenwert der verewigten Personen und Ereignisse hängt gewissermaßen mit
der Bedeutung der gewählten Verkehrsstraße zusammen. Die räumliche Verteilung
der Straßennamen impliziert jedoch kein zeitliches Fortschreiten, und das Fehlen
einer temporalen Richtung verhindert die mit der Progression der Zeit verbundene
Kausalität. Die Textstruktur eines Stadt-Textes wird deutlich anhand der alphabeti
schen Auflistung von Straßennamen in einem Städteführer. Diese Auflistung ist im
Grunde genommen ein autorisierter Index des National-Narrativs, freilich mit ei
ner ,lokalen 4 Verzerrung, und ohne die historischen „Feinde“, die fester Bestandteil
jeder Geschichte der Vergangenheit sind.
Stadt-Texte sind bedeutende Komponenten der politischen Kultur und hän
gen dementsprechend von radikalen Veränderungen des Herrschaftssystems und
von den Strukturen der hegemonialen Macht und seiner Ideologie ab. Das zeigte
sich deutlich während der Französischen Revolution, die eine Reihe von Umbe
nennungen von Straßen und Plätzen in Paris bewirkte: 1792 wurde beispiels
weise die ,Place Louis IV‘ in ,Place de la Revolution 4 (die spätere ,Place de la
Concorde 4 ) umbenannt. Jede groß angelegte Umbenennung ist abhängig von
dem besonderen Kontext der Zeit, aber das Grundmuster ist universell: jede
tiefgreifende Umstrukturierung der Macht hat ein Neuschreiben des National-
Narrativs und seiner Texte zur Folge. Bei Straßenumbennungen liefern die poli
tischen Vorbedingungen lediglich den allgemeinen Rahmen für die Modifizie
rungsprozesse. Der Prozeß selbst ist abhängig von bestimmten Faktoren, die von
Fall zu Fall verschieden sind. Das Neuschreiben eines Stadt-Textes ist verhältnis
mäßig einfach, wenn die neue Herrschaftsform autoritär ist; sollte sich die po
litische Veränderung in die andere Richtung bewegen, hin zu größerer Offen
heit 4 und ,Demokratie 4 , dann ist der Prozeß viel aufwendiger. Unterschiedliche
Interessen, obwohl in ähnlicher Terminologie formuliert (was auf einen großen
Konsens hinweist), decken sich widersprechende Ansichten auf, was Ausmaß und
Charakter des Neuschreibens betrifft. Ein wichtiger Faktor, der den Prozeß beein
trächtigt und erschwert, ist, daß der Umbenennungsakt aus zwei gleichzeitigen
Verfahren besteht, da der entfernte Name durch einen neuen ersetzt werden muß,
und beide Entscheidungen von der Zustimmung der verschiedenen Parteien ab
hängig sind.