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Full Text: Zeitschrift für Volkskunde, 88.1992

Maoz Azaryahu 
der politischen Sphäre völlig losgelöst sind. Über Straßennamen dringt der My 
thos der Vergangenheit bis in die bescheidendsten Bereiche menschlichen Lebens 
ein. Die Helden der Vergangenheit und die ideologischen Konstrukte, die sie reprä 
sentieren, werden Teil der täglichen Sprache. Die scheinbare Bedeutungslosigkeit 
von Straßenschildern, fern jedweder offiziellen Propaganda, verleiht ihnen eine 
Selbstverständlichkeit, die sie ihrerseits auf die Version der Vergangenheit, die sie 
repräsentieren, und dadurch auf die Strukturen der Macht übertragen. 
Eine Gruppe von Straßenschildern (kurz: Stadt-Text) erzählt nicht die Vergan 
genheit in der Weise, wie es zum Beispiel eine historische Ausstellung, ein für den 
Ünterricht bestimmtes Textbuch oder ein historischer Film tun. Der gesellschaftli 
che Stellenwert der verewigten Personen und Ereignisse hängt gewissermaßen mit 
der Bedeutung der gewählten Verkehrsstraße zusammen. Die räumliche Verteilung 
der Straßennamen impliziert jedoch kein zeitliches Fortschreiten, und das Fehlen 
einer temporalen Richtung verhindert die mit der Progression der Zeit verbundene 
Kausalität. Die Textstruktur eines Stadt-Textes wird deutlich anhand der alphabeti 
schen Auflistung von Straßennamen in einem Städteführer. Diese Auflistung ist im 
Grunde genommen ein autorisierter Index des National-Narrativs, freilich mit ei 
ner ,lokalen 4 Verzerrung, und ohne die historischen „Feinde“, die fester Bestandteil 
jeder Geschichte der Vergangenheit sind. 
Stadt-Texte sind bedeutende Komponenten der politischen Kultur und hän 
gen dementsprechend von radikalen Veränderungen des Herrschaftssystems und 
von den Strukturen der hegemonialen Macht und seiner Ideologie ab. Das zeigte 
sich deutlich während der Französischen Revolution, die eine Reihe von Umbe 
nennungen von Straßen und Plätzen in Paris bewirkte: 1792 wurde beispiels 
weise die ,Place Louis IV‘ in ,Place de la Revolution 4 (die spätere ,Place de la 
Concorde 4 ) umbenannt. Jede groß angelegte Umbenennung ist abhängig von 
dem besonderen Kontext der Zeit, aber das Grundmuster ist universell: jede 
tiefgreifende Umstrukturierung der Macht hat ein Neuschreiben des National- 
Narrativs und seiner Texte zur Folge. Bei Straßenumbennungen liefern die poli 
tischen Vorbedingungen lediglich den allgemeinen Rahmen für die Modifizie 
rungsprozesse. Der Prozeß selbst ist abhängig von bestimmten Faktoren, die von 
Fall zu Fall verschieden sind. Das Neuschreiben eines Stadt-Textes ist verhältnis 
mäßig einfach, wenn die neue Herrschaftsform autoritär ist; sollte sich die po 
litische Veränderung in die andere Richtung bewegen, hin zu größerer Offen 
heit 4 und ,Demokratie 4 , dann ist der Prozeß viel aufwendiger. Unterschiedliche 
Interessen, obwohl in ähnlicher Terminologie formuliert (was auf einen großen 
Konsens hinweist), decken sich widersprechende Ansichten auf, was Ausmaß und 
Charakter des Neuschreibens betrifft. Ein wichtiger Faktor, der den Prozeß beein 
trächtigt und erschwert, ist, daß der Umbenennungsakt aus zwei gleichzeitigen 
Verfahren besteht, da der entfernte Name durch einen neuen ersetzt werden muß, 
und beide Entscheidungen von der Zustimmung der verschiedenen Parteien ab 
hängig sind.
	        
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