Utopiazza
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Kontinuität dieses Prinzips. Wird dort der Rückzug ins Private kritisiert, so stellt
man hier Privatheit und Öffentlichkeit ohne Grenzziehungen und in einem Chan
gieren zwischen den Räumen dar. Wird dort über die Lasten und Kosten disku
tiert, die das Leben in der Großstadt dem Individuum abfordert, so wird hier
Großstadttypisches ausgeblendet und von Florenz das Bild einer überschau- und
e rlebbaren Stadt gezeichnet.
Neues Urbanitätsgefühl und Versuche der Wiederaneignung der Stadt und des
Raumes haben hier im Süden — man könnte sagen, wieder einmal — einen Projek
tionsraum gefunden. Der allgemeine Boom, wie ihn heute der Städtetourismus er
lebt, könnte als diese Suche nach Städten, in denen man besser leben zu können
glaubt, gedeutet werden. Daß die zeitlich begrenzte Flucht mit Rückfahrkarte zer
störerisch auf eben diese Urbanität wirkt, die man in den bereisten Städten zu fin
den hofft, wird höchst selten reflektiert; die Autoren der untersuchten alternativen
und politischen Reiseführer bilden hier keine Ausnahme. Jüngst hat Richard Sen-
uett in der Einleitung zu seiner neuesten Analyse der Erscheinungsformen und Er
lebnisräume der Stadtkultur auf diese Rolle des Tourismus im Prozeß der Zivilisa
tion der Stadt und der „Verödung und Trivialisierung der Stadt als Schauplatz des
Lebens“ 87 hingewiesen. Indem sie sich und ihre Leser als Intellektuelle gegen die
Klasse der Konsum- und Kulturtouristen abgrenzen, sprechen die Autoren von al
ternativen und politischen Führern ihr Publikum von dieser Verantwortung frei.
Wie schon Generationen deutscher Intellektueller vor ihnen, bemühen diese
Autoren Italien bzw. Florenz als Fluchtpunkt ihrer Wunschvorstellungen. Hatte
Noch noch 1934 von der „Dürer-Goethe-Perspektive“ 88 geschrieben, wie sie die
Sicht auf Städte wie Florenz und Rom bestimme, so ist es die Intention alternativer
ü nd politischer Reiseführer, derartige Wahrnehmungsmuster hinter sich zu lassen,
freilich ist auch ihr Modell von der demokratischen Aneignung öffentlicher Räu-
ftie in Florenz nicht voraussetzungslos. Es steht gerade in seiner historischen und
Politischen Wertung in der Tradition Jacob Burckhardts, der in der Geschichte der
Stadt „höchste politische Bewußtheit“ 89 verwirklicht sah und Florenz den Titel
des »ersten modernen Staates der Welt“ 90 zusprach. Zieht man die Texte von Benja-
m in und Bloch als Vergleichsmaßstab heran, bleiben die Autoren der untersuchten
bände neuerer Konzeption hinter bestehenden Traditionen zurück.
Dem Blick des Städters auf das Land nicht unähnlich, ist ihr Florenzbild, beson
ders aber der Entwurf der „piazza“ geprägt von einer perspektivischen Verengung,
die die Realität und ihre Prozesse ausklammert und statt dessen Kontinuitäten her-
st ellt. Ausgehend von einer Defiziterfahrung sucht man sich im Süden sozusagen
Richard. Sennett: Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschiedes. Frankfurt am Main
1991, hier S. 12.
Ernst Bloch: Venedigs italienische Nacht (1934), in: Emst Bloch: Literarische Aufsätze. Gesamtaus-
8g § a k e Ed. 9, Frankfurt am Main 1965, S. 503—508, hier S. 506.
Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, hrsg. u. eingeführt von Wal-
ter Rehm. Flerrsching 1981, hier S. 102.
90 Ebenda.